Stars aus Berlin

Berlin ist ein kulinarischer Himmel - und dann auch wieder nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das erste westnepalesische Restaurant Deutschlands hier aufmacht. Die Wahrscheinlichkeit ist auch hoch, dass es bald wieder zumacht. Essengehen in Berlin hat oft mehr mit Lifestyle und persönlichem Milieu bzw. individueller Identität, nicht immer mit Qualität zu tun. Dabei ist es natürlich längst auch ein Lifestyle bzw. Identity Shaping, Fine Dining zu betreiben. Und das wollen gerade in Berlin bekanntlich viele. Außerdem geht es in Berlin ja durchaus auch ganz gut.

Das war nicht immer so. Die Küche der Region ist traditionell arm und bodenständig, wobei die Hugenotten zumindest ein bisschen Stil importierten. Gutes Essen in Berlin hatte also einen französischen Klang. Im Adlon gab es vor über 100 Jahren einen Pariser Küchenchef, der legendäre Gelage inszenierte und damit ein bisschen Paris an die Spree holte. Dieser Spirit reichte bis in die 1920er Jahre; eine eigenständige kulinarische Identität in der noblen Küche konnte die Stadt trotzdem (oder gerade deshalb) jedoch auch in den Goldenen Zwanzigern nicht ausbilden.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die ambitionierten Restaurantbetreiber der Stadt auf französisch inspirierte Küche. 1966 erhielt das entsprechend geprägte Maitre einen Michelinstern. Hier kochte der Franzose Henry Levy. Er war auch derjenige in Berlin, der am ehesten Anschluss an die deutschen Topadressen v. a. im Süden hielt, wobei er u. a. mit der deutschen Produktqualität zu kämpfen hatte. Als er sein Restaurant Anfang der 1980er schloß, stellte er ernüchtert fest: Wenn es nur die Berliner Gäste gäbe, dann wäre in der Stadt nicht einmal Platz für ein einziges Gourmet-Restaurant. Berlin war selbst im deutschen Vergleich besonders wenig ambitioniert, was Geschmack und Produktqualität betraf.

Interessanter Weise teilten auch im Osten der Stadt einige die Vorstellung, französische Lebensart sei auch in der Ernährung ein Qualitätsmerkmal - scheiterten aber natürlich angesichts der Restriktionen des Regimes, der Produktknappheit sowie dem DDR-Zeitgeist an der Umsetzung. Einzig Doris Burneleit brachte es zu einer gewissen Bekanntheit. Ihr „Fioretto“ war das vermutlich einzige italienische Restaurant der Welt ohne italienische Produkte. Ansonsten fanden sich einige gehobene Bonzenrestaurants, ohne deren Besuch man kulinarisch indes wenig verpasste.

Einer der “großen” (West-)Berliner Köche war Siegfried Rockendorf, seit den 1980ern mit 2 Michelinsternen ausgezeichnet. Er war der erste bekannte Berliner Koch, der sich der Kreativität verschrieb und das aufkommende Interesse an regionalen kulinarischen Traditionen aufnahm. Er bemühte sich mit viel Elan, musste aber mitansehen, wie Anfang der 1990er zunächst viele Gourmets Berlin den Rücken kehrten (oder zu diesem Zweck gar nicht erst kamen) und sich die großen internationalen Hotelketten ihre Präsenz in der Stadt auch durch die verbesserte Ausstattung ihrer (oft nicht allzu fantasievollen) Restaurants und Weinkeller zu sichern versuchten. Später probierten Neulinge wie Kolja Kleeberg (im VAU), die Stadt kulinarisch bunter zu machen - noch ohne durchschlagenden Erfolg.

Im neuen Jahrtausend kam dann Wind in die Szene. Der Unternehmer Fritz Eichbauer, der 1971 das “Tantris“ gegründet und dort Eckart Witzigmann eine Bühne geboten hatte, kam nach Berlin und eröffnete das Gourmet-Bistro „Portalis“. Die Adelsfamilie Hardenberg machte derweil das luxuriöse „Margaux“ auf. Aus Spanien drang die Kunde der Küchenrevolution von Ferran Adrià, ohne dass Berlin ein echter Resonanzboden hätte sein können. Trotzdem entwickelten die Küchenchefs jetzt klare eigene Handschriften und allmählich stieg das Interesse an Fine Dining in und aus der Bundeshauptstadt. Erkennbar war das nicht zuletzt am Aufstieg von Tim Raue, der eigentlich alles (gut) kochen kann, den Durchbruch aber erst mit seiner Asienoffensive schaffte.

Ein finanzstarkes Klientel fehlte indes weiterhin und den meisten Spitzenrestaurants blühte früher oder später der wirtschaftliche Tod. Einen wichtigen Katalysator bildete die Öffnung des Landes anlässlich der Fußball-WM 2006. Ein Jahr später bekam mit dem “Fischers Fritz” mal wieder ein Berliner Restaurant einen zweiten Michelinstern. Es folgten Stefan Hartmann und Daniel Achilles im „Reinstoff“ und Sebastian Frank im „Horvath“. Besondere Avantgarde strahlt seit 2015 Billy Wagner im „Nobelhart & Schmutzig“ aus - mit einer “brutal lokalen“ Küche. Dylan Watson-Brawn eröffnete 2017 das “Ernst”, dessen Ansatz bis zur Schließung 2024 sich irgendwie nicht so richtig zusammenfassen lässt; man muss es erlebt haben. Und 2020 erhielt mit dem “Rutz” unter Küchenchef Marco Müller das erste Berliner Restaurant überhaupt drei Michelinsterne.

Die Rotation und Fluktuation der Szene wird weitergehen. Neue Stars kommen (Karl-Louis Kömmler vom Loumi möchte ich hier schon mal erwähnen - hierzu kommt ein separater Bericht), etablierte gehen (Dylan Watson-Brawns Ernst fehlt der Szene sehr). Trotzdem hat sich Berlin in den 2020er Jahren endgültig als eine der wichtigsten deutschen Fine-Dining-Locations etabliert, die in vielerlei Hinsicht die Trends setzt (vegane Spitzenrestaurants oder das Zweisterne-Dessertrestaurant Coda sind gute Beispiele). Klar, die relative kulinarische Leistung an Orten wie Baiersbronn ist eindrucksvoller als in der größten Stadt der EU mit 2024 knapp 13 Mio. TouristInnen. Der höchste Genussmoment ist (meines Erachtens) hier auch noch ein Stückchen weg. Aber der Platz auf der Gastrolandkarte ist klar markiert - und bei Berlin ist an dem Punkt normalerweise noch nicht Schluss.

Was heißt das nun für meine Einschätzung der Szene 2025? Während man unterhalb des Sternelevels eigentlich alles erhält, was man sich in irgendeinem schrägen Traum ausmalen kann, muss man die Sterneriege etwas kritischer anschauen: Jede/r Interessierte sollte einmal das Rutz besuchen. Es hat zwar m. E. beim Service nachgelassen und die Zeiten, als man sensationelle, eher unbekannte Weine für 11 Euro das Glas dazuempfohlen bekam, sind auch vorbei. Trotzdem beeindruckt die Küche, die auf exzellente, wenn möglich regionale Produkte setzt und insbesondere bei den Fischgerichten einen ganz eigenen, feinen und klug kombinierten Stil offenbart.

Daneben bleibe ich ein Fan von Tim Raues Zweisternerestaurant. Hier habe ich das erste (und mit einer Ausnahme in Kopenhagen einzige) Mal erlebt, dass sich die Geschmacksrichtungen noch Minuten nach dem Einverleiben des Gerichts ändern und den Gaumen (oder irgendeine undefinierbare Stelle im Körper) überraschen. Von sauer zu süß, von bitter zu salzig, neue Nuancen poppen auf und immer wieder Wellen von Umami. Viele RezensentInnen sehen Raue nicht (mehr) ganz oben. Für mich persönlich bleibt er ein Aspirant auf den dritten Stern.

Die Zweisterner Horvath und Facil haben mich nicht besonders beeindruckt, wobei man Sebastian Frank und Joachim Gerner sicher zwei Sterne verleihen kann. Zum Coda gibt es einen separaten, aktuellen Bericht.

Auf Ebene der Einsterner sind meine persönlichen und subjektiven Empfehlungen das Lorenz Adlon Esszimmer (was dieses Jahr den zweiten Stern verloren hat, ich aber beim Essen - im Unterschied zum v. a. preislich unverschämten Getränkeangebot - weit oben sah), das Tulus Lotrek sowie das Loumi. Bonvivant, Hallmann und Klee, Cookies Cream sowie Nobelhart und Schmutzig erhalten sicherlich Punkte für die Originalität (und durchaus auch das Essen). Und im Endeffekt kann gesagt werden: Keines der von mir besuchten Berliner Sternerestaurants war den Besuch nicht wert; überall waren alle Zutaten für ein tolles Erlebnis vorhanden. Und das ist doch schon mal was in dieser Stadt.

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Frühjahrsnotiz