100/200 Kitchen: Seasons in the Sun
| 100/200, Hamburg ** | |
|---|---|
| Ambiente | 9 |
| Service | 8 |
| Getränke | 9 |
| Essen | 8,8 |
| Gesamteindruck | 8,7 |
Meine Bewertung: Das 100/200 Kitchen von Thomas Imbusch trifft voll ins Ziel - entspannt-lässiges Ambiente, großartige, kreative Küche und originelle Weine. Der Ansatz mit den unterschiedlichen Menüs je nach Jahreszeit - und der damit einhergehende Mut, immer wieder Neues zu testen und anzuecken - überzeugt auf ganzer Linie. Für mich einer der besten Restaurantbesuche des Jahres, zumindest in Deutschland.
Die Geschichte hinter dem Restaurant
Am dritten Tag des Hamburg-Trips steht mit Thomas Imbuschs Lokal ein Ziel an, das bei mir seit Jahren Sehnsuchtscharakter hat. Warum, kann ich gar nicht so genau sagen. Wahrscheinlich hat es peinlich profan begonnen mit dem originellen Namen, der sich - das ist viel zitiert worden, sei mir aber an dieser Stelle trotzdem erlaubt zu sagen - auf die 100 Grad, die das Wasser zum Kochen braucht, und die 200 Grad in Imbuschs Backofen bezieht. Dann reizen mich das naturnahe, nachhaltige Konzept, Imbuschs unkonventionelle Haltung zum Kochen und Offerieren - und nicht zuletzt die Bereitschaft, einfach mal eine Saison lang ein komplett vegetarisches Menü anzubieten - egal was die anderen sagen.
Diese Individualität hat sich ausgezahlt: Nachdem Imbusch in Bremen angefangen und im Victor's Fine Dining bei Christian Bau sowie im Off-Club in Hamburg seine Kochfähigkeiten optimiert hatte, gründete er 2018 das 100/200 Kitchen und betreibt es mit seiner Frau. Das Restaurant wurde 2019 mit dem ersten und 2022 mit dem zweiten Stern ausgezeichnet. Im Frühjahr 2024 eröffnete Imbusch zudem eine Art Restaurant im Restaurant auf der Empore: Das GLORIE, ein reines À-la-carte-Restaurant, erhielt 2025 den ersten Michelinstern.
Außenansicht des 100/200 Kitchen in Hamburg. Auf der anderen Seite liegen Billhafen und Bahnknoten
Die Erfahrung
Hinein in eine ganz eigene, ungezwungen-gemütliche und doch auch sehr mondäne Atmosphäre. Bisschen industrial, bisschen Lounge, bisschen Country-Kneipe. Mit Bluesrock und Blick auf parallel und entgegengesetzt vorbeirauschende Züge vor Hafenkulisse. Man fühlt sich auf Anhieb unglaublich wohl, alles entspannt, nur die Vorfreude kribbelt auf angenehme Weise.
Das 100/200 Kitchen in Hamburg zeichnet sich durch eine - für ein Zweisternerestaurant - ganz ungewöhnliche Atmosphäre aus
Nach dem äußerst gelungenen Aperitif, einem Schaumwein von Ziereisen “Der Rausch gehört zum Leben dazu” in gekühlten Gläsern, werde ich eingeladen, die heutigen Zutaten zu begutachten.
Ein Auszug des Wintermenüs im 100/200 Kitchen…
… und für den passenden Wein ist auch gesorgt
Der Star des Abends
Hier startet das Menü mit einer Pilz-Rum-Tartelette - erdig, waldig, tief und lang. Dazu gereichtes Kefir-Wasser bildet einen originellen Kontrast (9). Zurück am Tisch geht es los mit den Amuse-Bouches. Im Unterschied zu fast allen anderen Restaurants erhält man im 100/200 Kitchen keine Karte bzw. Menübeschreibung im Vorfeld. Man soll augenscheinlich unvoreingenommen spüren, was die Küche für genusswürdig befindet. Und vielleicht selbst erkunden, was vor einem bzw. in einem ist. Am Ende nimmt man zwar einen Briefumschlag mit Karte entgegen, doch auch hier werden die Gänge nur sehr oberflächlich beschrieben (“Pilzhappen", “Kohl”, “Försterin Lümmel”, “Tarte & Parfait”). Es gibt zum Start also Süß / Rote Beete, Sauer / gedörrte Tomate, Salzig / Kohl/Morchel, Bitter / Radiccio, dazu eine Rosmarinbrühe. Das ist alles präzise, superintensiv und ewig im Mund (9). Das Sauerteigbrot ist knusprig, eine originelle Rosmarin-Chili-Butterkomposition mit einer dezenten Süße begleitet wunderbar (9).
Eine Wildpastete mit Cumberlandsauce und Roter Beete weist Tiefe auf und liefert zugleich Spritzigkeit (9). “Kalmar, Kohl und Kümmel” ist sehr salzig, aber was für ein Einsatz des Kohls! Auch Bitterkeit mit Säure, extrem intensiv, zum Schwelgen (8,5). Die Cannelloni mit Rehragout und Pilz bzw. Morchel in einer aromatischen, schaumigen Sauce sind wahrlich göttlich, eine hochintensive Kreation, allerdings auch extrem salzig. Hier ist der Trick, dazu die Weinbegleitung zu kosten, einen Chardonnay / Savagnin “Tradition” der Domaine Macle aus der Region Jura von 2018. Das jetzt in seiner Salzigkeit nivellierte Gericht ist mit dem sherryartigen Wein ein brilliantes Match (9).
Das “Wild Baden-Baden” beinhaltet Reh, Preiselbeere, Birne mit knackigem Rettich. Ich lege mich mal fest: Besser geht Reh nicht. Es ist optimal in Salz, Würze und Frische eingebunden und auch hier ergänzt der Wein (Ziereisen Jaspis Bürgin Spätburgunder 2015) optimal (9). Imbusch steht mitnichten im Verdacht, auf einige wenige signature dishes zu setzen (er erfindet vielmehr ständig neue Kreationen und lanciert Testballons), aber der nächste Gang kann am ehesten als eine solche bezeichnet werden: Käsetoast mit Brioche, altem Gouda und Champignon. Das ist irgendwie wie abgewandelter Toast Hawaii in viel viel besser - irre intensiv mit dem tollen alten Gouda. Dazu steuert ein Pilzkombucha erdig-süß-säuerlich-herbe Noten bei (8,5).
Der Nachtisch besteht aus einer Karamelltarte sowie einem Olivenölparfait mit Pfeffer. Man wird in scharfem Ton angehalten, zwischen beidem hin und her zu springen. Dazu noch der Wein aus der Begleitung (Armagnac vom Chateau de Léberon) und alles ist wieder paradiesisch stimmig und komplex (8,5). Ein Macaron mit Kaviar, Kardamom und Vanille baut sich über die Zeit auf zu etwas sehr Besonderem, Eigenem. Sehr sehr lang und der hochwertige Kaviar ist als elementarer Bestandteil stets wahrnehmbar (10). Ein weiteres Macaron mit Litschi, Himbeere und Rose wird von letzterer Geschmacksnote dominiert (8). Eine Madeleine als Abschluss ist derweil luftig, zimtig, unspektakulär (7,5).
Wer nicht hin und her springt, ist raus
Die Getränkeauswahl ist (einigermaßen) klein, aber (sehr) fein. Originelle Drinks, originelle Weingüter, originelle Zusammenstellungen. Die Weinbegleitung hat nichts mit dem Restetrinken anderer Restaurants zu tun, sondern ist Manifest einer perfekten Symbiose aus Flüssig und Fest. Die Weine sind nicht nur stimmig zu den Gerichten, sondern eigentlich ein fantasievoller Teil davon. Das merkt man u. a. daran, dass sie das Salz mancher Gerichte ausgleichen und ein neues Geschmacksbild hervorrufen.
Insgesamt sind zahlreiche spannende Getränke in den fairen Preis integriert und das macht einen Riesenspaß. Der Service ist unaufgeregt-entspannt, wirkt spontan, obgleich organisiert, dazu ehrlich und offen. So macht auch das Freude.
Das 100/200 Kitchen leert sich - und man möchte eigentlich bleiben
Am Ende müssen wir sanft rausgeschmissen werden, denn man könnte hier ewig sitzenbleiben, so überwältigend ist der Zusammenklang aus kosmopolitisch und regional. Ich habe selten ein Restaurant erlebt, bei dem das jeweilige explizite Motto bzw. Thema so konsequent, intelligent und mitreißend auf den Tellern, in den Gläsern und über den Enthusiasmus des Teams umgesetzt wird. Total straight und dabei doch das Motiv umfangreich ausreizend. Und wenn man weiß , dass das nur eine Jahreszeit in Imbuschs Kalender darstellt (die im darauffolgenden Jahr auch noch abweichend gestaltet werden dürfte), dann haut einen das schon ziemlich um.
Hier erwächst Stammlokal-Potenzial, sofern die ICE-Strecke zwischen Hamburg und Berlin bald wieder regulär betrieben wird. Ich weiß jedenfalls, was ich mir im Frühjahr in Hamburg gönne - wenn die neue Saison anbricht. Darauf freue ich mich schon heute.
Ambiente 9
Service 8
Getränke 9
Essen 8,8
Gesamteindruck 8,7
Was die anderen sagen
Julien Walther besucht das 100/200 Kitchen häufiger. Hier vergibt er 8/10 für ein vegetarisches Menü, aber es lohnt sich, auch seine anderen Berichte zum Restaurant zu lesen.
Bernd Grill ist mit 18/20 dabei.
Gourmettrips sieht ein “sehr gelungenes kulinarisches Erlebnis”.
Und auch die Kochfreunde sind positiv gestimmt.