August: Grünwalds Gesamtkunstwerk

Die Geschichte hinter dem Restaurant

Heute steht ein weiteres reizvolles Ziel an: Christian Grünwalds August in der denkmalgeschützten Haag-Villa in Augsburg. Im scharfen Kontrast bspw. zum kürzlich besuchten Troyka hat Grünwald bis vor kurzem einen Ruf als medienscheuer Eigenbrötler kultiviert und u. a. lange auf einen Webauftritt verzichtet. Ohnehin macht er ganz augenscheinlich sein eigenes Ding.

Grünwald wurde in den 1960ern im Allgäu geboren und gründete sein Restaurant nach Ausbildung und einer kurzen Lehrzeit u. a. in Luxemburg, der Schweiz und der Karibik im Jahr 1989. Seither führt er es ohne Pause, seit 2016 im Obergeschoss der Haag-Villa. 2007 erhielt das August den ersten Stern; 2009 den zweiten. Die Damen und Herren vom Gault Millau können mit Grünwalds Küche indes deutlich weniger anfangen und vergeben nur 14 Punkte. Ohnehin scheinen das solitäre Konzept und die vermeintlich etwas dickköpfig-individualistische Küchenlinie die Gemüter der professionellen und Hobby-Kritiker mitunter zu polarisieren.

Die Vorbereitung prägt bei mir das Bild Grünwalds als Paradiesvogel, der alles zeigen will, was er kann, dabei auf exzellente Produkte setzt und ggf. manchmal übers Ziel hinausschießt bzw. auch hier und da danebenliegt. Mit solchen Ansätzen (Ernst, Alchemist) habe ich gute Erfahrungen gemacht und sie sind mir grundsätzlich sympathisch. Besonders freue ich mich auf das künstlerische Ambiente der denkmalgeschützten Villa von 1877.

Villa Haag in Augsburg

Die Erfahrung

Dass man es heute mit einer holistischen Multi-Art-Installation zu tun hat, wird schon beim Betreten der Villa mit den klug verteilten künstlerischen Elementen, hohen Decken, Parkett und den original Deckengemälden aus dem 19. Jahrhundert deutlich. Es läuft Minimal(-Minimal)-Jazz, wirklich alles ist kreativ aufeinander abgestimmt, inklusive der Darreichungen der Gänge (Akte) im Rahmen auf angenehme Art theatralischer Anrichteweisen. Serviert werden sie auf farblich variierend beleuchteten „Schaufenster“-Tischen, unter deren Glasplatte Deko und Essbares präsentiert wird. Videos und Fotos von Personen sind übrigens untersagt, so dass die eigens geschneiderten Uniformen der MitarbeiterInnen an dieser Stelle nicht bildlich dokumentiert werden können.

Kunst allenthalben

Das Menü beginnt, zunächst mit den "Snacks". Eine mit Tomaten skulptierte Zigarre, die außerdem mit Nuss, etwas, das wie Tahini schmeckt, und Tomatenwhisky angerichtet ist, startet extrem originell, knusprig und intensiv. Die Sämigkeit des Tahini (?), die Nussigkeit und v. a. die extrem aromatische Tomate laden die Geschmacksnerven auf, dann folgt eine Wärme und Rauchigkeit, welche auf das Whisky-Tomaten-Gebräu zurückgehen. Alles hallt lange nach und ist so eigen und genial, dass meine Wertung schnell feststeht (10). Es folgt Bachforelle mit Pistazie, Kaviar und Apfel. Ein geschickt choreografierter Ablauf im Mund, bei dem die Noten des eleganten Fisches und die salzige Pistazie starten; das Salz wird bald von der intensiver werdenden Forellennote überlagert; Kaviar spielt im Hintergrund; der Apfel kommt plötzlich dazu; alles lang am Gaumen (8,5). Bio-Huhn vom Holz mit Paprika und Zitrone spielt wundervoll mit Rauchigkeit und unterschiedlichen Temperaturen, alles geschmacklich an der richtigen Stelle eingebunden, wieder für die Länge komponiert (8,5). Beim Blauen Mond (Basilikum, Tomate, Gurke) mit Apple Sour von Bergamotte und Rubinetteapfel und alkoholfreiem Gin kontrastiert der frische Inhalt des Mondes (quasi the fresh dark side of the moon) mit etwas pappiger, im Mund klebender "Mondoberflächensubstanz"; der dezente und trotzdem kontrastreiche Apple Sour bringt die Wertung nach oben (7,5).

Es folgt Latschenkiefer und Fichte als Waldtrunk und Rind in verschiedenen Zuständen, dazu Rauchaal, Walnuss, Sauerrahm, Waldklee und weiße Trüffel. Wieder diese Vielfalt. Der Wald im Mund. Eine tolle Fleischqualität. Der Trunk würzig, waldig, kräutrig, heiß. Trotz kleiner Schwächen (zu intensive Butterbrösel und saure Sahne) ein vorzügliches Gericht (8,5).

Grünwald ist ja bekannt für sein Feuerwerk der Appetizer, das hiermit beendet ist. Das Stück geht über in den zweiten Akt - mit einem "Blick in den Garten". Das sind Auberginencreme (die an Lebermousse angelehnt ist), verschiedene Mandeln, Hühnerflügelkaramell und v. a. eigens angebautes Gemüse, Blüten und Blätter. Das ist ein nicht nur optisch überwältigendes Gericht, bei dem man parallel zum Genuss die verschiedenen zigtausend Kombinationen der Zutaten im Mund abzuschätzen versucht. Einiges ist besonders toll, so die Rote Beete, und immer wieder überrascht ein grüner oder roter Strang mit einem neuen Geschmack, der dann wieder abgelöst wird. Eine Tour d' Horizon der Gemüsewelt (8,5). Mit "Samt" folgt das nächste Highlight dieses kulinarischen Theaterstücks. Dry-aged Paprika und Mohn, Quellwasser-Saibling, geflämmte Grapefruit, Gurke, Minze, alles an einem Telly-Cherry-Petersilien-Pfeffer-Sud. Eine etwas (zu) dominante Minze fällt mit dem samtigen Sud zusammen und beides umrahmt einen Fisch von herausragender Qualität. Die Minze herrscht auch am Ende des Gaumenerlebnisses noch als markante Gebieterin (8).

Der Akt "Holzgereift" steht an: Pata Negra vom Joselito-Schwein, mit Whisky und Butter von vier Hölzern übergossen. Diese Konstruktion war etwa eine Stunde zuvor am Tisch angezündet und im Rahmen eines unterhaltsamen, wenngleich etwas theatralischen Akts in einer geschlossenen Holzschachtel unter die Tischplatte geschoben worden. Dazu wird Zwiebel, Kaffee, Haselnuss und Spinat gereicht. Wir haben es mit einem ausgezeichneten Stück vom echten, hochwertigen Iberico-Schwein zu tun, das mit dem Whiskyjus (der eigentlich nicht nach Whisky schmeckt) und den auffälligen Haselnüssen schön auf Zweisterneniveau zusammenspielt (8).

Grünwald greift das lunatische Motiv "Mit der Laune des Mondes" erneut auf und serviert Felsenrotbarbe aus dem Olivenölbad, Strandkräuter, Ochsenherztomate, Limone, Kakao und Ziegenkäse. Das ist schwer zu schneiden bzw. unglücklich zu essen, aber als Umami-/Salzbombe mit originell-geschmackvollen, geeisten Ziegenkäsekugeln auch wieder klar auf Zweisterneniveau (8). Als Einstimmung zum Hauptakt mit Ente kommt das entsprechende Keulenconfit, das sehr lange eingelegt gewesen sein muss. Differenzierte Würze und Umami zum Reinlegen; das hallt ewig nach und ist delektabel (9). Als "Terroir mon Amour" bricht der Hauptakt dann an. Eine Ente mit Hanfsamen, Anis, Olive, weißer Rübe, Kastanie, Bucheckern und schwäbischer Zwetschge. Wieder mal eine berauschende Vielfalt an originellen Zutaten, wobei von phänomenal (Zwetschge, Olive) über solide (Ente in Anis und Hanf) bis zu richtig schlecht (buttrige Rübe) alles dabei ist. In der Gesamtwertung ist das doch sehr überzeugend (8).

Nun folgen die Dessertgänge, zunächst mit dem "Augenblick": Geeiste Vanille, knusprige Vanillehefestangen, weißer Trüffel, Feige "aus der Glut", eingelegte Sauerkirsche, Holunderblüte, gesalzene Kirschblüte und Sirup vom Birnenschnaps. Von den zahlreichen gewagten Kombinationen dieser Gangfolge ist das vermutlich die abenteuerlichste. Manche Löffel kommen eher unpassend rüber, z. B. wenn die sehr rauchige Feige auf die Vanille-"Salz"-Stangen trifft. Andere, v. a. der Zusammenklang von Kirsche, Vanille und großartigem weißem Trüffel, sind schlichtweg sensationell und zum Dahinschmelzen. Zusammen nivelliert sich das bei 8. Die "Sweets" beinhalten "nur" einige Macarons, u. a. mit Johannisbeere, Himbeere-Basilikum und Mandel-Seegras. Eine nette Idee, der Inflation besonders wilder und schräger Petits Fours in anderen Restaurants schmackhafte "Klassiker" entgegenzusetzen - zumal Grünwalds Küche wie kaum eine Zweite vor dem Vorwurf gefeit sein dürfte, zu wenig zu wagen (8).

Die Weinkarte ist klein, die Weine stammen von nur wenigen Gütern (zehn insgesamt für Deutschland). Es handelt sich auch eher um Klassiker, trotzdem ist die Karte mit Liebe und Kompetenz zusammengestellt. Die Weinbegleitung kommt originell und unkonventionell daher, alle Gläser sitzen zu 100 Prozent. Der Service ist flexibel und die Preise der Flaschen sind sehr fair kalkuliert. Der Sprudel kommt in einer Karaffe wunderschön daher, verliert aber in dieser Form schnell an Kohlensäure - hier hätte man die Ästhetik auch mal der Funktionalität opfern können.

Ich trinke einen alkoholfreien Aperitif mit Darjeeling, Rose und Rhabarber - eine erfrischende Mischung, nur die Eiswürfel stören beim Trinken (zu den Starters). Ein klassischer Champagner (Veuve Pelletier) mit dominantem Chardonnay ist kräftig und doch elegant (zum Ende der Starters). Es folgen ein komplexer Grüner Veltliner (Wimmer-Czerny) zum "Samt", ein Chablis (Louis Moreau) mit ausgewogener Frucht zum Schwein sowie ein stimmiger, perfekt temperierter Tempranillo (Izagi) zur Ente. Den Abschluss macht Schwarze Johannisbeere von Zott.

Auch der Service ist als kunstvolle Performance durchchoreografiert, wobei das in keinster Weise albern, sondern bunt und eingespielt rüberkommt. Nachdem der Chef beim Empfang eine kurze Tour durch diesen Teil der Villa offeriert, ist er auch später so präsent wie ich es noch nie von einem Gastgeber/Küchenchef in einem noblen Restaurant erlebt habe. Dabei genießt er erkennbar die Anerkennung der Gäste für seine Kunstwerke, wenn er serviert oder abräumt, aber das ist ja mehr als legitim. Überhaupt sind alle sehr stolz auf die Show und das Essen; sie scheinen ehrlich für das Restaurant zu brennen - und dafür, den Gästen einen besonderen Abend zu ermöglichen. Ich sehe das alles als Gesamtvorführung unter Dauerpräsenz des Chefs, was einen signifikanten Effekt auf die Rezeption des Grünwaldschen Gesamtkonzepts beim Gast hat.

Hier tagtäglich solch eine umfassende, facettenreiche Gesamtperformance zu erbringen, mit so vielen Produkten, Ideen, Kombinationen, der stets perfekten Temperierung im oft unerwarteten Zusammenklang, der "ahs" und "ohs" entlockt - das ist schon aller Ehren wert.

Und vor diesem Hintergrund gibt es etwas, das hier angesprochen werden muss: Außer mir war noch eine Vierergruppe hier - an einem Freitagabend waren wir also 5 Gäste. Das ist absurd. Absurd angesichts des Enthusiasmus des Teams. Absurd angesichts der Qualität der Speisen. Absurd angesichts der Vollkommenheit des Programms. Absurd angesichts der fairen Preise. Absurd angesichts der Lage des Lokals in einer der reichsten Regionen eines der reichsten Länder der Welt. Warum wird das Restaurant nicht überrannt? Was ist das für eine Prioritätensetzung bei der hiesigen Bourgeoisie?

Und richtig wütend macht mich, dass es dann auch Abende geben wird, an denen dieses großartige Angebot überhaupt keine Abnehmenden findet. An denen Herr Grünwald mit Team die kunstvollen Wände der Haag-Villa betrachten muss, statt selbst Kunst zu produzieren.

Ambiente 9
Service 9
Getränke 8
Essen 8,3

Gesamteindruck 8,5

Was die anderen sagen

Die Sternefresser differenzieren, würdigen das spannende kulinarische Schauspiel - und auch die meisten Gerichte - aber durchaus.

Bernd Grill kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.

[Beide Besuche sind schon eine Weile her.]

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