Steinheuers: Tradition und Exzess
Die Geschichte hinter dem Restaurant
I feel like changing plans. Wie ich so gemütlich auf der A61 gondle und die Ausfahrt Bad Neuenahr / Ahrweiler ins Blickfeld kommt, packt mich die Lust auf Spätburgunder aus dem Ahrtal und ich setze den Blinker. Das Ahrtal ist erstaunlich überschaubar und noch immer im Landschaftsbild heftig von der Flutkatastrophe gezeichnet. Die Menschen werben für ihre Region, zeigen Engagement beim Aufbau und Kreativität, die sich u. a. in sehr originell gestalteten (oft weinbezogenen) Örtlichkeiten äußert. Nach dem Abklappern von einigen Gütern stehe ich im Zelt eines Weinfestes und überlege, was man mit dem angefangenen Abend machen könnte. Oh, hier ist ja das Steinheuers, das war mir gar nicht bewusst. Also mal durchklingeln - und siehe da, Zimmer und Tisch sind noch verfügbar.
Geprägt wurde das Restaurant im Gasthof Zur Alten Post von Hans Stefan Steinheuer, der in den 1970ern im Rheinland zum Koch ausgebildet wurde, dann in verschiedenen Restaurants arbeitete und 1985 den elterlichen Landgasthof in Bad Neuenahr übernahm. 1986 erhielt das Restaurant den ersten Stern, 1999 den zweiten. Im gleichen Jahr ernannte der Gault Millau Steinheuer zum „Aufsteiger des Jahres“, ein Jahr später gar zum „Koch des Jahres“. Weitere Auszeichnungen folgten.
2015 übergab Steinheuer den Posten des Küchenchefs an seinen Schwiegersohn Christian Binder, bleibt aber im Hintergrund in der Verantwortung. Binder machte seine Ausbildung im Margaux in Berlin und arbeitete im Anschluss in verschiedenen Häusern, u. a. in Shanghai und London.
Wenn ich meine Lektüre zum Restaurant richtig interpretiere, erwartet einen hier traditionelle französische Kost, lange ganz nah am dritten Stern und als hervorragender Klassiker gehandelt, aber in jüngster Zeit als etwas angestaubt und wenig innovativ kommentiert.
Die Erfahrung
Dieser Bericht stellt mich zugegebenermaßen vor eine große Herausforderung. Was ich am Abend in diesem Lokal erlebe, wird zu einem der denkwürdigeren Abende meines Lebens und gelangt definitiv unter die Top 3 der verrücktesten Fine-Dining-Erlebnisse. Die Geschichte werde ich hier nicht ausbreiten, aber sie beeinflusst mein Bild auf den Service und das Getränkeangebot des Restaurants (und auf die Restaurant-/Weinszene in Deutschland bzw. deutsche Feier- und Speisekultur). Der Bericht soll weitgehend unabhängig davon stehen und etwas über das normale Restauranterlebnis aussagen - denn einen solchen Zufall gibt es nur in 0,0000000000000000000001 Prozent der möglichen Tagesverläufe.
Das Restaurant ist erstaunlich klein (8 Tische) und trotz moderner Kunst etwas in die Jahre gekommen bzw. leicht angestaubt, obwohl physisch kein Staub in Sicht ist. Wie ein erweitertes Esszimmer aus den 1970ern, aber ganz gemütlich.
Eine wirklich schöne Karte!
Die fünf Jungs am Nachbartisch sind laut und wirken neureich. Sie ordern das Beste vom Besten. Sie faszinieren mich immer mehr: Was machen die beruflich (Vermutung: Consulting oder Finanzen - beides gar nicht mal so falsch und dann doch wieder unzutreffend)? Warum haben alle - optisch und im Habitus - recht unterschiedlichen Mitzwanziger so viel Ahnung von Wein? Ist das ein Betriebsausflug (warum keine Frauen dabei?) oder Freundestreffen (selbst wenn man reich ist: Was ist nur aus dem guten alten Kneipenbesäufnis mit anschließendem Besuch im Stripclub geworden?). Die Auflösung folgt und leitet den ungewöhnlichen Abend ein - aber das ist, wie geschrieben, eine andere Geschichte.
Den Auftakt machen Amuse-Bouches. Zunächst Nori mit Tapioka, Rotgarnele und Meeräsche. Die vielversprechende Kombination enttäuscht im Mund angesichts der zähen Klebrigkeit und des insgesamt wenig vielfältigen Geschmacksbilds (6,5). Ein Parmesanchip mit Sardine, Tomate und Olive folgt. Sardine und Olive dominieren klar, sind fast etwas zu gewaltig, verschwinden dann aber zugunsten eines tauben Gefühls am Gaumen (6,5). Eine Römische Pastete mit Rindertatar und einer Sauce Béarnaise ist mir zu buttrig, glänzt aber mit angenehmer, gut dosierter Salzigkeit (7). Die Brotauswahl besteht aus schwäbischer Seele, Laugenbrötchen und verschiedenen Sorten mit Butter. Hier ist die Seele wirklich exzellent (und das sage ich als Schwabe!), sonst sind die prägnant-knusprigen Nuancen v. a. bei den dunklen Sorten zu finden (8).
Eine Ceviche von der Dorade mit Ziegenkäseschaum stellt sich eher als eine Art Gurkenkaltschale mit einer irritierenden Süße heraus; das dazu gereichte Baguette ist indes gut (6,5). Dann folgt Gänseleber in verschiedenen Zuständen mit Kürbis und Brioche. Die Geschmacksrichtungen sind gut austariert; die Leber schmeckt intensiv und nimmt geschmacklich einen gelungen balancierten Zustand mit Süße und der Briochenote ein; dazu dominanter Alkohol (Cognac?). So, jetzt geht’s los, wir sind mitten in Frankreich und das macht Binder ausgezeichnet (8,5). Der Kaisergranat kommt mit Karotte und Pistazien, sehr klassisch und solide (8).
Als nächstes folgt Blauer Hummer mit Zucchini, Erbsen und einem Ravioli - weniger spektakulär, als man hätte hoffen können (7,5). Und ein Klassiker der Küche: ein Onsen-Landei, traditionell in etwa 65 °C heißen Quellen gegart. Das Eiweiß ist nicht hart, das Eigelb hat durchgehend den gleichen Garpunkt, der von leicht flüssig bis butterig-cremig reicht. Das Ei kommt mit Kartoffelschaum, Spinat und weißen Alba-Trüffeln. Eine wahre Umami-Bombe, die aber etwas “too much” daherkommt und differenzierter, feiner hätte sein dürfen (8).
Das Steinheuers ist nicht zuletzt für seine sehr große, hervorragende Käseauswahl berühmt. Ich kann mich davon überzeugen, dass von der Beratung übers Anrichten bis hin zur großartigen Qualität der vielfältigen Käse alles auf ganz hohem Niveau ist (9).
Mit die beste Käseauswahl deutscher Restaurants
Ein Brombeer-Schokoladen-Milch-Dessert schließt den Magen zufriedenstellend (8); die Pralinen sind derweil unspektakulär (7,5).
Eine umfangreiche Weinkarte weiß zu begeistern - zunächst mit deutschen Klassikern und originellen Gütern, v. a. aus dem Ahrtal; später auch mit tollen, großen Weinen aus der ganzen Welt. Der Weinservice ist kompetent, die Preise sind normal bis günstig (bei den großen Lagen).
Beim Service mischen sich erfahrene Damen, die zum Hotel zu gehören scheinen, mit jungen, etwas altbacken (positiv) wirkenden KellnerInnen. Irgendwie ist das beruhigend und angenehm. Und später zeigt sich, wie flexibel, souverän, zugewandt und hilfsbereit die Damen (Herren sind dann nicht mehr da) agieren, wenn es nötig ist.
Aus o. g. Gründen (Stichwort: Trennschärfe) spare ich mir ein langes Fazit in Worten und gehe zum numerischen über.
Ambiente 7
Service 8,5
Getränke 9
Essen 7,8
Gesamteindruck 8
Was die anderen sagen
Die Sternefresser sehen eine zugängliche Küche mit teils sehr guten Gerichten, wobei sie ein bisschen Pep vermissen.
Die Tischnotizen beschreiben ein nur bedingt überzeugendes Menü, aber einen sehr guten Service und eine exzellente Weinkarte.
Bernd Grill vergibt 18/20 Punkte.