Waldhotel Sonnora: Am Ende der Skala
Das Waldhotel Sonnora ist für mich das beste Restaurant in Deutschland und bietet ein herausragendes Gesamterlebnis.
Die Geschichte hinter dem Restaurant
Die Welt ist komplex und liefert meist differenzierte Bilder (auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen). Nur selten sind sich alle einig. Das gilt auch für die gastronomische Welt. Mit Ausnahme von einem Restaurant, zu dem es keine zwei Meinungen zu geben scheint: dem Waldhotel Sonnora in Dreis.
Helmut Thieltges wurde in eine Gastwirtfamilie in Dreis hineingeboren. Er begann seine Lehrzeit in Trier und wechselte 1973 ins Schlosshotel Pontresina bei St. Moritz, in den Breidenbacher Hof nach Düsseldorf und 1977 in die Bastei in Köln. Blieb also - mit Ausnahmen - regional. Ab 1978 kochte er im familieneigenen Waldhotel Sonnora am Rande von Dreis. 1982 erhielt das Sonnora den ersten Stern, 1991 folgte der zweite, 1999 der dritte. Auch in allen anderen Wertungen fand sich das Sonnora bald ganz oben wieder.
Nach Thieltges’ Tod 2017 übernahm Clemens Rambichler als Küchenchef. Er gehört seit 2011 zum Team - mehrere Jahre als Sous-Chef - und hatte davor in Berchtesgaden das Kochhandwerk erlernt. Rambichler bestätigte den dritten Stern und etablierte sich in Rekordzeit in den Fußstapfen des Meisters Thieltges. Inzwischen gibt es nicht wenige, die ihn sogar eine halbe Stufe höher sehen - das wäre dann das allerhöchste Level der globalen Champions League.
2021 übernahmen Rambichler und seine Lebensgefährtin Magdalena Brandstätter den Betrieb. Sie war lange die Hauptsommelière im Sonnora, ist auf vielen Feldern im Hotel/Restaurant präsent, hat aber auf der Weinberatungsbühne vor kurzem dem Rising Star Marco Franzelin das Feld weitgehend überlassen. Dieser wiederum hat zuletzt ordentlich “bester Sommelier”-Titel abgeräumt.
Alle kundigen Fine Diner und Drinker sind sich also einig, dass es weit und breit nichts Besseres gibt. Alle bis auf meinen Freund Ref, der neulich semi-begeistert aus dem Sonnora zurückkam und die Innovationsbereitschaft und Wow-Effekte vermisste.
Ich durchdenke das also küchenwissenschaftlich und stelle fest: Es gibt augenscheinlich eine herrschende Meinung, wonach das Essen so perfekt ist, dass disruptive Innovation nicht hilfreich, sondern kontraproduktiv wäre. Nach dem Motto "jeder Gourmet muss französische Perfektion anerkennen und das ist sie". Und die abweichende Meinung: handwerklich und in der Produktqualität herausragend, aber vorhersehbar und im Gesamtergebnis nicht hinreichend stimulierend. Praktisch niemand vertritt die Ansicht, dass die Qualität überbewertet sei. Aber auch praktisch niemand sieht tatsächlich disruptive Innovation in der dortigen Küche. In diesem Setting starte ich meine persönliche Studie.
Eingang zum Waldhotel Sonnora: Sieht so ein Haus der Götter aus?
Die Erfahrung
Viel zu kurz vor dem Start komme ich im Hotel an und erlebe dort einen wahrlich wundervollen Empfang. Der Charme, Witz, die Erfahrung und Herzlichkeit der Rezeptionistin sind überwältigend und das Einchecken kann sich - wenn auch anders in der Art - locker mit dem Raffles in Singapur oder dem Oriental in Bangkok messen.
Los geht das lukullische Erlebnis in der Lounge, mit einem Barolo Chinato von Luca Roagna. Hierbei handelt es sich um ein sensationelles Bittergetränk aus Nebbiolo, das es auf Anhieb in die Hall of Fame meiner Aperitifs schafft. Mental sinke ich in einen Trancezustand, der für Stunden anhalten wird.
Das Menü startet im noblen und gemütlichen Speisesaal - mit Lachstartelette mit Trauben, Shiso und Ingwer. Das ist perfekt in der Qualität und angenehm dezent; die Pfeffertöne hallen lange nach und ergeben irgendwas am Gaumen, das meine Fähigkeit zur Beschreibung übersteigt (10). Die Champignontartelette mit Waldaroma riecht nach Wald und schmeckt nach Wald - genau so soll es auch sein (9). Die Auster mit Johannisbeer, Lavendel und Gin ist derweil das pure Meer und steht über Minuten - aber auch wieder in einer Dezentheit und Feinheit, die seinesgleichen sucht (10). Als wäre das noch nicht genug, kommt ein Taschenkrebs mit Buttermilch, Wasabi und Avocado, der Löffel passend zur Kühle des Gerichts auch gekühlt. Hierbei handelt es sich schlicht und ergreifend um eine Sensation. Eine Komposition aus Salzigkeit, Schärfe, Säure und etwas Süße, minutenlang am Gaumen - eines der besten Gerichte meines ganzen Lebens (10).
Dann kommt ein Brotwagen angefahren - mit einer Riesenauswahl aus unterschiedlichem Mehl, frisch abgeschnitten für den Gast und mit Charme und einem flotten Spruch dargereicht. Alles von erlesener Qualität. Besonders das Gewürzbrot und das Sylter Brot sind ganz ganz toll (10).
Jede/r sollte sich mal einen Brotwagen im Waldhotel Sonnora herbeichauffieren lassen.
Ein Eierstich mit Bachsaibling ist die letzte, warme Vorspeise. Wieder dieses Spiel mit der Schärfe! Wieder so lang im Mund! Die nachwirkende Kresse! (9) Nun kommt Gänseleber und piemonteser Haselnuss, aromatisiert mit Périgord-Trüffel, Blätterteig und Nadelbohnen-Pistazien-Vinaigrette. Das Gericht glänzt erneut mit feinster Abstimmung (9). Und jetzt: der Klassiker. Rinderfilettatar mit Kartoffelrösti und N25-Kaviar, als Tortenstück gebaut. Meine gigantische Erwartungshaltung wird zwar nicht übertroffen, aber auch nicht enttäuscht. Exzellent auch zum empfohlenen Wein (9).
Ein Kaisergranat mit Zucchini, San-Marzano-Tomaten, Taggiasca-Oliven und griechischem Basilikum ist hochfein, produziert aber zum ersten Mal keine Ergebenheit (8,5). Es folgt Blauer Hummer in Beurre Noisette gebraten, mit Erbse, Zerbinati-Melone, Minze, Eifler Speck und Mandel. Hier muss man sich erst an die leichte Süße gewöhnen, merkt dann aber, wie genial sie durch Würze und zarte Schärfe eingebunden wird. Wieder lange und komplex im Mund (9). Der Steinbutt mit Muscheln, Ingwer, Lauch, Sud von Schalentieren und Zitronenthymian - aromatisiert mit altem Wermut - reaktiviert das faszinierende Würze- und Komplexitätsspiel, diesmal ein bisschen salzig, aber durch die unglaubliche Länge am Gaumen trotzdem auf solidem Dreisterneniveau (9). Als klassischer Fleischgang folgt nun ein Rehrücken “aus Eifler Jagd” mit Pfifferlingen, eingelegten Gewürz-Himbeeren, Guanciale, Petersilie und Sauce Rouenaise. Das herausragende Kartoffelpüree bettet das bodenständige, aber feine Wild in seiner differenzierten Milde perfekt ein und macht es so von der 8,5 zur 9.
Nun gibt es als Prédessert eine geeiste Kiwi und Kokosnuss mit Thai-Basilikum sowie Zitronenmelisse. Hier spürt man Frische und Minzwürze mit authentischem Kokosgeschmack. Das holt den Gaumen wieder runter und ist das perfekte Reset für den reichlich überwältigten Mund (9). Es folgt - im Rahmen meiner Ergänzungsbestellung - der zweite Klassiker: Baba au Rhum mit Creme Chantilly von Tahiti-Vanille und marinierter Ananas. Die hocharomatische Ananas, leicht angegrillt, und die Sahne bilden ein Traumgespann; weniger "Bäm" als gedacht und eher wieder ein weltbewegendes Gesamtbild (auch mit dem Wein), das - wer hätte das gedacht - noch Minuten steht (9). Der klassische Menüabschluss steht irgendwann - in dieser lukullischen Trance bekomme ich nur die Hälfte mit - auf dem Tisch: warmer Schokoladenkuchen mit Bari-Feige und Sauerrahm-Feigenblatt-Eis. Die ungewöhnliche Zitrusnote im Sahneeis fällt gleich auf, und schnell wird klar, wie originell und wohlkomponiert dieser Akzent ist. Ganz besonders toll ist übrigens die Portweinsauce “Graham’s 40 years” (9).
Die Petits Fours (Madeleines mit Beerencreme, Kuchenstücke, Grapefruitsorbet, Popcorneis) bilden mehr als einen würdigen Abschluss, eigentlich schlichtweg eine weitere geschmackliche Sensation (10).
Der Service ist ehrlich gut drauf, hochaufmerksam, höflich, dabei aber ungemein unterhaltsam, z. T. gar mitreißend (nicht dass das erforderlich wäre) und passt sich an alle Gäste individuell an. Das ist hochgradig empathisch und enthusiastisch. Mein Test, um zwischen 9 und 10 zu differenzieren: bekommt man beim Stuhlzurechtrücken das Möbelstück (leicht, nicht wie im Sessellift!) in die Kniekehle gerammt? Passiert selbst in den meisten Dreisternerestaurants - mal drauf achten. Hier natürlich nicht. Das wiederum löst einen neurotisch-pedantischen Reflex in mir aus, irgendetwas zu finden, was nicht perfekt läuft. Am Ende bleibt eine Brotscheibe, die auf einer Seite minimal zu hart ist (weil der Anschnitt länger zurückliegt). Die Befassung damit ist mir selbst peinlich, während sie professionell ausgetauscht wird.
Was mit der ausgewählten Aperitifkarte startet und seine Fortsetzung mit der ausgezeichneten Weinkarte erfährt, endet mit einer großartigen Digestifauswahl. Bei den großen Weinen sind zudem die Preise sehr fair. Herr Franzelin ist wahrscheinlich wirklich der beste Sommelier Deutschlands - kompetenter kann man nicht beraten (komponieren). Auch macht Coravin vieles möglich, was ich als herausragende Getränkeerfahrung verbuche. Sei es ein lokaler Riesling von Julian Haart, ein Palomino Fino en Rama Sherry von Mario Rovira, ein Tement 2015 Zieregg Weiße Wand Sauvignon Blanc, ein Lassak Hörnle Pinot Noir aus dem großen Jahr 2022 u. e. m.
Selten (bis nie) in einem solchen Zustand ins Bett gegangen…
Beim Frühstück ist man versucht, gleich weiterzubewerten. Da gäbe es auch einiges: das - da lege ich mich fest - beste Omelett der Welt mit Bergkäse, Speck, frischen Tomaten und Gartenkräutern, himmlischer Ziegenkäse mit Körnerbrot, Meeresfrüchtekompositionen, frischer Saft aus wahnsinnig aromatischen Orangen, Paté, Lachs von allerbester Qualität, Honig, den Götter gemacht haben müssen...
Lassen wir das und fragen uns stattdessen: Ist das Sonnora empfehlenswert? Jein.
Es kommt auf den Zeitpunkt der Fine-Dining-Reise an, welche die/der Einzelne unternimmt. Jungen EinsteigerInnen würde ich abraten - einzig aus dem Grund, dass danach das Bekannte nicht mehr dasselbe ist und der mühsam errichtete Referenzrahmen schlagartig in sich zusammenfällt. Zum Abschluss bzw. Höhepunkt der Reise - oder wenn man schlicht reich genug ist - sieht das natürlich ganz anders aus.
Zwei Dinge möchte ich noch erwähnen, die an anderer Stelle nicht so explizit gesagt werden: Erstens lohnt es sich unbedingt, das Sonnora klassisch am Abend zu besuchen und im Hotel zu übernachten. So erhält man das Gesamtpaket, das aus mehr als einem exzellenten Menü besteht. Zweitens, und damit verbunden, hört man manchmal, es sei ja toll, aber auch sehr teuer. Das finde ich ungerecht. Ich finde den Preis sogar günstig für die Leistung, die man erhält. Immer vorausgesetzt natürlich, man ist grundsätzlich bereit, viel Geld für ein kulinarisches Erlebnis auszugeben (wer würde sonst diese Zeilen lesen?). Aber der Unterschied zwischen den hiesigen Gerichten und solider Zweisterneküche für vielleicht 100-150 Euro weniger ist exorbitant.
Das Waldhotel Sonnora spielt in Deutschland in einer eigenen Liga (und das, obwohl Deutschland inzwischen insgesamt in der Champions League angekommen ist). Wie der FC Bayern in manchen Jahren, nur mit zwei Unterschieden: Erstens räume ich dem Sonnora im internationalen Spitzenwettbewerbendenfeld deutlich bessere Chancen ein als den (derzeitigen) Bayern. Zweitens ist das Waldhotel in jeder Hinsicht auch noch sympathisch (wieder ein paar LeserInnen verloren).
Fazit: Es gilt, im Diskurs die herrschende Meinung zu unterstreichen und zu überbieten, auch wenn mein Freund sofort Konformismusvorwürfe aus der Schublade zieht. Sie sind einfach nicht glaubhaft. Wie eigentlich auch das in den vergangenen 17 Stunden Erlebte. Ein Traum in Geschmacksexplosionen, überwältigender Herzlichkeit, vielfältigen neuartigen Inspirationen, unerreichten Genusswelten, ungeahntem Komfort.
Das irdische Paradies kann nirgendwo näher sein als in Dreis, Kreis Bernkastel-Wittlich, Rheinland-Pfalz, Bundesrepublik Deutschland.
Ambiente 10
Service 10
Getränke 10
Essen 9,3
Gesamteindruck 9,7
Was die anderen sagen
Das Netz ist voll mit überschwänglichen Berichten zum Waldhotel Sonnora, z. B.
Julien Walther, der stets 10/10 Punkte vergibt.
Mein Namensvetter MacClaus, der nahezu das gleiche Menü hatte und 9,5/10 Punkte vergibt.
Matthias Ruhl mit 19/20 Punkten.
Bernd Grill ist begeistert.
Les-Etoiles, ebenfalls mit 10/10 am Start.
Die Tischnotizen, äußerst positiv.
Andy Hayler steuert 20/20 bei.