Skandinavien: Am Puls
Einige Trendbegriffe der letzten Jahre: Digital Creative, Matcha Latte, Wokeness, Yoga Retreat, Whataboutism, Body Positivity, Neue Nordische Küche - Stop! Neue Nordische Küche - was ist das eigentlich genau?
Anfang der 00er Jahre legte v. a. der dänische Koch René Redzepi als Küchenchef des Noma (nordisk mad / nordische Küche) die Grundlagen dieser kulinarischen Bewegung. Die Küche zeichnet sich durch die Verwendung von lokalen, saisonalen Zutaten aus der (nordischen) Region, traditionelle Techniken, Nachhaltigkeit sowie Respekt vor den Produkten und eine kreative, minimalistische Philosophie aus. Seit dieser Zeit sind zahlreiche KöchInnen den Weg gegangen, diese Strömung mitzugestalten und weiterzuentwickeln. Das Frantzen in Stockholm, das RE-NAA in Stavanger, das Geranium in Kopenhagen sind nur einige Beispiele. Selten hat eine Bewegung (wenn man das so nennen will) so viele Foodies und Gourmetreisende angezogen und Skandinavien - nebst anderen Attraktionen natürlich - zu einem immer beliebteren Touristenziel gemacht.
Machen wir uns also ein eigenes Bild: Flug nach Kopenhagen, über die Öresund-Brücke und Landesgrenze nach Malmö. Hier steht ein klassischer Vertreter der Zunft, prototypisch für modern-schnörkellose nordische Küche: Das Vollmers.
Die Geschichte des Restaurants reicht bis ins Jahr 1920 zurück, als die deutschen Auswanderer Ebbe und Bertha Vollmer eine Kurzwarenhandlung gründeten. Seit 2011 wird das Restaurant von den Brüdern Mats und Ebbe Vollmer geführt; inzwischen zweifach besternt. Es gilt als heißer Anwärter auf die schwedische Nummer 2 nach dem Frantzen.
Nach mehreren Stunden und vielen Gängen, die sich um eher klassische Zutaten (Kartoffeln, Pilze, Mehl u. v. m.), aber auch ungewöhnliche Zutaten (Knochenmark) bzw. Kombinationen (“MacDonald`s-BigMac-Soße” zu nordischen Produkten) drehen und dabei in nüchtern-feinem Ambiente die Klaviatur eher klassischer skandinavischer Küche zu bedienen wissen, steht das Fazit: ein sehr guter, nüchterner Start, der Lust auf die beiden Paradiesvögel der kommenden Tage macht.
Fazit
Ambiente 8
Service 8
Getränke 7,5
Essen 7,8
Gesamteindruck 7,8
Am Tag darauf die entgegengesetzte Route: über den Öresund ins nördliche Kopenhagen und am Abend ins weit am Rande der Stadt gelegene Quartier Gentofte, wo im unspektakulären Vororthotel eines der besten Restaurants der Welt Einzug gefunden hat: das Jordnaer.
Angesichts der Berichte zu bisherigen Besuchen (z. B. von Julien Walther) sind die Erwartungen stratosphärisch hoch.
Eric Vildgaard blickt auf einen harten Weg zurück: sein Leben war lange von Gewalt, Drogen und dem Kampf ums Überleben auf der Straße geprägt, bevor er aufs Kochen setzte. Sein Bruder Torsten – damals die rechte Hand René Redzepis und heute eine Art Botschafter der nordischen Küche, der das FZN in Dubai aufgemacht hat – holte ihn ins Noma, wo er seine Kochkünste perfektionierte, aber auch Disziplin verinnerlichte, wie er heute selbst sagt. Den Traum vom eigenen Restaurant verwirklichte er sich mit Ehefrau Tina im Jahr 2017. Der erste Stern kam wenige Monate nach Eröffnung, der zweite ein Jahr danach, der dritte 2024.
Wie isses also? Das Menü kann als Best-of-the-Best der schwimmenden, kriechenden und semi-beweglichen Welt unter der Oberfläche unserer Meere beschrieben werden. Diese Zutaten werden hier und da garniert mit etwas Gemüse, Obst oder Gewürzen, mit Soßen ohnehin, aber sie stehen in ihrer wahnsinnigen Qualität eigentlich für sich.
Ich zähle am Ende des Abends siebenmal meine persönliche Bestnote für unvergessliche Speisen (10), dazu noch fünfmal die 9. Lediglich ein Fisch in Knoblauchsosse holt mich gar nicht ab und der Nachtisch kann auch nicht mit dem vorangegangenen Menü mithalten.
Das lässt sich hier vergleichsweise kurz und schmerzlos darstellen: als absolutes Nonplusultra in Sachen nordisch inspirierte Meerestiere - von einem extravaganten Besitzerpaar, das eine der großen Küchen der 2020er Jahre betreibt und bespielt.
Fazit
Ambiente 8,5
Service 8,5
Getränke 8,5
Essen 9,2
Gesamteindruck 8,8
Ist das noch zu toppen?
Man könnte jetzt das Noma einbauen, das Geranium, das in einem Fußballstadion liegt. Oder neue Aspiranten wie das a/o/c oder das Koan.
Oder eben das Alchemist. Das Restaurant von Rasmus Munk dürfte ein heißer Anwärter auf Titel wie "umfassendstes bzw. ambitioniertestes Gesamtkonzept", "längste Dining-Erfahrung", "meiste Locationwechsel während des Restaurantbesuchs" oder "sektenartigstes Setting" sein.
Munk ist eine der schillerndsten Figuren der Gastroszene überhaupt. Er ist nicht nur herausragender Koch, sondern in seinem Restaurant auch Theaterregisseur, Politiker, Umweltaktivist, Storyteller, Designer, Mahner, Forscher, Lobbyist, Provocateur. Munk ist, 1991 in Jütland geboren, noch recht jung für seine globale Bedeutung. In jungen Jahren kochte er u. a. in London und Dänemark, machte dann das ursprüngliche Alchemist 2015 in Kopenhagen auf, allerdings als kleinere Location an anderer Stelle. 2019 zog das Team in die neue Riesenhalle auf der Kopenhagener Halbinsel Refshalevej, wo die Räumlichkeiten zum Anspruch Munks an die Gesamtshow passen.
Also steht man vor einer großen Tür. Diese öffnet sich. Man tritt ein. Die Show beginnt.
An dieser Stelle möchte ich - ohne das hieb- und stichfest erklären zu können - auf eine detaillierte Beschreibung verzichten. Jede/r muss bzw. sollte diese Erfahrung selbst machen. Es kann aber gesagt werden, dass ein solches Ambiente, ein solches Gesamterlebnis, das immer auf einen wirkkräftigen Hintergrund abzielt, die Speisen manchmal sogar eher zu den flankierenden Elementen der Show, den (sehr gut besetzten) Nebendarstellern degradiert, nirgendwo sonst so existiert. Eine Theatervorstellung über 6 Stunden, von missionierendem, aber umwerfendem Eifer getragen. Am Ende verliebt sich die gesamte Gruppe in unsere Botschafterin (Kellnerin trifft es hier sicherlich nicht) - mehr ist in dieser Kategorie nicht möglich. Die Getränke schreiben die Geschichte des Menschen, der Umwelt, der Gefährdung und der Verantwortung auf ihre eigene - in Trance versetzende - Weise fort.
Und das Essen? Wird den 2 Sternen durchaus gerecht, wenn die Amplitude auch signifikant ist. Ein "Space Bread" und Hummer schlagen mit 10 zu Buche; ein die Texturen und Optik von Plastik aufweisendes Gericht sowie etwas, das auf einer täuschend echt aussehenden Zunge serviert wird, Gehirn, Herz und Blut haben etwas Existenzielles, aber im Essenskontext auch Ekelhaftes an sich. Alles unterstreicht die jeweilige sozio-ökologische Botschaft, die Munk rüberbringen will.
Nach Dutzenden Gängen, ungezählten Inspirationen, schrägen Einfällen, Installationen und Performances an verschiedensten Orten tritt man in die Nacht hinaus - überfordert, ungläubig und in einem ganz eigenen State-of-Mind.
Ein überwältigendes Kaleidoskop, das über Stunden alle Sinne anspricht und eine professionell dargereichte Botschaft bereithält. Wenn ich meine Idee eines echten Weltrestaurants, in dem die ganze Erde kulinarisch auf höchstem Niveau abgebildet sein soll, mal verwirklichen werde, dann mit Rasmus Munk. Wobei der dann sicherlich schon zwei Schritte weiter, bei irgendeinem galaktischen Blockbuster sein wird.
Fazit
Ambiente 10
Service 10
Getränke 9
Essen 8,2
Gesamteindruck 9,1
Skandinavien ist also "the place to be", noch immer am Puls. Die hier vorgestellte Auswahl bietet ein Dreigestirn aus traditionellem und trotzdem jugendlichem Nordic Dining (Vollmers), einem Giganten der Meere (Jordnaer) sowie einer Showarena sui generis, die indes auch nicht zufällig in Kopenhagen steht.
Und das ist nur eine von hunderten möglichen Kombinationen für eine denkwürdige, unvergessliche Gourmet-Reise nach Skandinavien, diesem so plausiblen Sehnsuchtsort.