Luxemburg: Essenz Europas
Auf in ein Nachbarland, von dem wir kulinarisch wenig mitbekommen, obgleich es angesichts seiner Lage zwischen Frankreich, Belgien und dem deutschen Gourmetmekka Mosel/Saarland sowie der sehr finanzkräftigen Klientel für lukullische Leidenschaft prädestiniert ist. Auf nach Luxemburg!
Bei der Vorbereitung stößt man sofort auf einen Namen: Lea Linster, Ikone der weiblichen Fine-Dining-Bewegung, Kolumnistin, Gastgeberin im Fernsehen, Autorin und vieles mehr. Ihr Restaurant wird seit 2019 von ihrem Sohn geführt und hat zwei Sterne. Trotzdem entscheide ich mich hinsichtlich meines Abendessens nicht hierfür, sondern für das Ma Langue Sourit, u. a. auf (unpersönliche) Empfehlung von Bernd Grill, der hierauf wiederum von Nina Mann aus Victor's Fine Dining gestoßen wurde. Recherchiert man weiter, erfährt man, dass sich das Restaurant der Gemüseküche widmet und meist als Nummer 1 des Landes bezeichnet wird.
Mittags möchte ich italienische Küche genießen. Luxemburg hat im deutschsprachigen Raum vergleichsweise viele italienische Sternelokale, wobei wir insgesamt von einer erstaunlich geringen Zahl sprechen: Bei 2 auf knapp 700.000 Einwohner berechne ich den Quotienten 2,9; Deutschland kommt bei nur 3 (!) italienischen Sternerestaurants auf 0,04, Österreich gar auf 0; die (z. T. italienischsprachige und sternemäßig an der Weltspitze stehende) Schweiz kommt mit 9 Restaurants, darunter allerdings einem Zweisterner, auf den Wert 1,0. Ein Zweisterner, 13 Einsterner bei über 100 Mio. Menschen, davon viele italienstämmig, von denen garantiert die Hälfte Italienisch als Lieblingsküche angeben würde. Erstaunlich, wie sehr Fine Dining hierzulande thematisch noch vom Massengeschmack entkoppelt zu sein scheint.
Also mache ich mich auf nach Roeser, zu Roberto Fani, der seinen ersten Stern im Heimatland Italien erworben hat, und nun in Luxemburg lebt und kocht. Im April 2016 eröffnete er das Fani; schon 2017 bekam er erneut einen Stern. In dieser Zeit wurde er vom Gault & Millau zudem als mediterraner Koch des Jahres in Luxemburg ausgezeichnet. Der aus Umbrien stammende Fani brachte seine gesamte Kochtruppe aus der Osteria Monte de Grano nach Luxemburg mit. Dass das Team eingeschworen ist, merkt man, dazu später mehr. Am Anfang suchte Fani Lieferanten, die genau die Produkte beschaffen konnten, die er wollte: italienische Spitzenlebensmittel. Er knüpfte nach und nach sein Netzwerk. Für Trüffel hat er inzwischen eigene Geheimquellen in Italien.
Das Ambiente des Restaurants ist stylish-modern. Die hübschen Lampen fallen auf. Es ist unter der Woche und der Speisesaal ist nahezu leer. Eine eigene Playlist hat das Team auch nicht aufgesetzt, stattdessen ertönen die Jazzklänge eines Radiosenders, was hier irgendwie ausgezeichnet passt.
Italienische Sterneküche im beschaulichen Roeser
Das Menü beginnt mit den Amuse-Bouches. Ein Beete-Cracker ist unspektakulär (6), das drei Tage fermentierte Foccacia hätte, obgleich perfekt warm temperiert, mit Olivenöl gewonnen (6,5). Reis-Puffs mit Muschel klingt harmonisch zusammen (7), während Wolfsbarsch mit Meerrettich und Sesam wieder unscheinbar daherkommt (6). Ein Thunfisch-Vitello mit getrockneten Kapern (6,5) und ein gebackener Rigatoni mit intensiv frischem Tomatentatar (7) folgen. Der eigentliche Brotgang beinhaltet u. a. hauchdünne - und damit geschmacklich kaum wahrnehmbare - Grissini und ein wohlschmeckendes, in seiner Milde, Frucht und Würzigkeit ausgewogenes Olivenöl (6,5).
Als nächstes gibt es Hummer in Sahne-Seebrassen-Emulsion mit Plankton. Die Sahnigkeit geht mit dem Hummer von exzellenter Qualität und den fein austarierten sonstigen Aromen gut zusammen (8). Steinbutt mit Karotten, Vanille und Algensalat beeindruckt angesichts der Spitzenqualität des Fisches, während man die Karotten nicht schmeckt und die Algen eine interessante Ergänzung liefern (7,5). Dann folgt ein Pastagang: Dreierlei Nudeln mit Fisch und Krustentier. Die Pasta ist perfekt al dente, die Krustentiersauce wahrlich zum Reinlegen, dabei schön heiß serviert (8). Und noch mal Pasta: Tortellini mit Schinkensahnesoße. Die superfeine Variante dieses Klassikers der schnellen Küche für den Nachwuchs strahlt mit einer überraschend ausgeprägten Sahnenote, die aber im Zusammenklang mit der exzellenten Pasta und den Miniumamispeckbomben noch lange stimmig im Mund wirkt (7,5).
Hauptgericht eins ist Taube mit Pilzen. Eine sehr ordentliche Taube, aber angesichts meiner rein subjektiven Skepsis bei diesem Fleisch für mich "nur" eine 7. Und dann folgt Rind aus Piemont mit Wildspinat und Beete. Die side dishes sind hier irgendwie irrelevant, das Fleisch liefert derweil intensives Fett, volles Salz, pure Lust (8,5). Dann baue ich einen Käsegang ein: Sechs verschiedene Parmesan, also verschiedene Reifegrade von 12 bis 30 Monaten, z. T. mit Spezialmilch hergestellt und von unterschiedlichen Dips sowie Parmesanbrot begleitet. Ist originell, macht großen Spaß und garantiert Topqualität (8,5).
Nach einem Happen auf die Hand, einer Art Zitruszuckerwatte (ohne Wertung) kommt das Prédessert: Kokosnuss und Zitrone! Mein lieber Himmel, warum kriegt man so etwas in seiner Schlichtheit Großartiges nicht anderswo? Karibik, Asien, Mittelmeer, whereever - für Minuten im Mund. Als Prédessert eine glatte 10. Auch die Zuckerwatte mit Milch, Mandel, Banane und Honig ist wundervoll, ein Traum in Milch und Honig (9). Die letzten Gänge holen mich vermutlich in der Kindheit ab und sind in Zeiten, in denen das Dessert (mich) oft eher enttäuscht, wahrlich einprägsam. Den Abschluss machen Tiramisu, in Grappa o. ä. eingelegtes Biskuit und Schokolade-Nuss. Klasse (8,5).
Das Fani offeriert eine mittelgroße Getränkekarte mit Schwerpunkt auf Italien. Mit Klassikern und nicht ganz so bekannten Weingütern. Fachkundig zusammengestellt. Einige - Freude machende - Zusatzoptionen benennt der Kellner; einen expliziten, separaten Sommelierservice gibt es indes (mittags?) nicht. Für mich springt ein Ca del Bosco Franciocorta, ein Nebbiolo Valgella von Sandro Fay und ein Pater Sangiovese von Frescobaldi heraus - alles keine hochpreisigen, aber perfekt passende Begleitungen.
Da wenig los ist, habe ich einen Kellner für mich, der in Sachen Kompetenz, Zugewandtheit, Diskretion, Flexibilität und Offenheit für einen netten Austausch weit überdurchschnittlich agiert. Auch der Rest der Crew ist hochprofessionell. Hier wäre natürlich interessant, ob dieses Level auch am Samstagabend gehalten wird, aber andererseits: whatever. Ich bin jedenfalls ziemlich begeistert. Das Fani hat ein klasse Programm geboten, auch wenn mit Blick auf einige Gänge das Potenzial noch nicht ausgereizt ist.
Aber, mio dio, hat das Laune gemacht!
Ambiente 7,5
Service 9
Getränke 8,5
Essen 8
Gesamteindruck 8,2
Wenig später finde ich mich schon zum Abendessen im Ma Langue Sourit ein, dem Zweisternerestaurant von Cyril Molard in Moutfort. „Meine Zunge lächelt“ geht zurück auf den begeisterten Ausspruch eines Mädchens zu einem Schokoladendessert von Molard. Der Franzose aus den Vogesen war - wie seine männlichen Vorfahren – zunächst Metzgermeister und Caterer. Er arbeitete u. a. im Lapérouse in Paris, dem Claridge’s in London und dem Flocons de Sel in Mègeve. Dann zog es ihn nach Luxemburg, wo er Küchenchef im Hotel Le Royal wurde und 2008 sein aktuelles Lokal eröffnete. 2010 erhielt das Restaurant einen Stern; 2018 folgte der zweite.
Nachdem mich am Morgen ein missed call ereilt hatte, auf den ich beflissen zurückrief, stieß ich auf eine der konfusesten und unfreundlichsten Telefonate, die ich mit einem Gourmetrestaurant je geführt habe. Es fand durch unvermitteltes Auflegen seitens der Telefonistin sein unrühmliches Ende (und erfuhr erst am Nachmittag eine - etwas behaglichere - Wiederholung durch eine Kollegin). Bei der Ankunft wird das nicht thematisiert. Die Servicekräfte sind professionell, wenn auch nicht so zugewandt wie der Kollege am Mittag. Mein besonderes Augenmerk findet die Location selbst.
Blick vom “Wohnzimmer” in die Küche
Es ist ein Wohlfühlort der etwas schrägeren Sorte.
und ein Teil des “Esszimmers”
In einer Lounge starten wir mit einem Krug 172 (mein erster Krug überhaupt und ich bin klar underwhelmed) und Amuse-Bouches, vom Chef persönlich gebracht: Frittiertes Bällchen mit Abalone und Pilzen (7,5), Taubenpaté (8), Kaviartartelette mit saurer Sahne und Eigelb (8), Rind-Senf-Buchweizen-Petersilie-Tartelette (8,5), Kaisergranat-Vanille-Zitrus-Avocado-Kaltschale (7,5). Ausgehend von dieser Lounge passieren die Gäste die Küche auf dem Weg zum Tisch; die Crew grüßt freudig und man nimmt Platz. Ein Kellner reicht dunkles Brot mit Olivenöl und Butter (7,5).
Der erste reguläre Gang ist Kaisergranat mit einem Ravioli, Butternutkürbis, Gurke und Pekannuss. Eine interessante, aber nicht hundertprozentig stimmige Kombination mit einem Kaisergranat, den ich in deutlich besserer Qualität kenne (7). Es folgt Abalone mit Brokkoli, Spinat und Haselnuss. Die Meeresfrucht ist lauwarm, das Gemüse schon fast kalt. Auch sonst harmoniert alles eher suboptimal, zumal das Gemüse nicht übermäßig intensiv schmeckt. Die Abalone selbst ist indes von guter Konsistenz und schmackhaft (7,5). Gang Nummer 3 ist eine in Scheiben geschnittene Jakobsmuschel in einer Buttersauce mit Gemüse. Die scallop ist schön fleischig und gut gegrillt, das Gemüse diesmal geschmacksintensiv. Die Soße ist hingegen nicht auf Sterneniveau und passt nicht wirklich zu den Jakobsmuscheln (7). Auch ein weiteres, helleres Brot erreicht den Tisch.
In der Mitte des Menüs liegt Hummer mit Muscheln, Kaviar und Spinat, alles umgeben von einer Hummeressenz. Auch dieser Gang ist eher geschmacksarm, nur der Spinat ergänzt eine angenehme Säure (7). Als nächstes der klassische Fleischgang: Angusrind mit Pilzen, Lauch, Ketchup und Senf. Das Fleisch ist solide gebraten, aber mehr auch nicht. Die z. T. kalten Beilagen sind uninspiriert; was Ketchup und Senf hier sollen, versuche ich (erfolglos) zu ergründen (6).
Das erste Dessert ist ein Butterkeks mit Honig und Milcheis. So etwas entspricht genau meinen Vorlieben; angesichts der zu dichten Konsistenz des Kekses und der nicht ganz ausgereizten Intensität beim Milcheis vergebe ich 8, ärgere mich aber über mich selbst, dass ich keine 8,3 in der Skala zulasse. Als Überraschung erhalte ich den zweiten Nachtisch einfach so dazu, obgleich ich die Zahl der Gänge reduziert habe. Es handelt sich um gemischte Zitrusfrüchte (u. a. Bergamotte, Grapefruit) mit Karottensauce und Minze in verschiedenen Zuständen. So interessant das klingt, so unspektakulär ist es. Dabei aber schön erfrischend und die Karotte gibt eine erdige Nuance hinzu (7). Die Petits Fours (Zucchini-Kürbis / Orange-Schokolade / Karamell /Schokoladenkuchen / Marshmallow / Johannisbeer-Beete) schließen das Mahl auf dem Niveau einer 6,5 ab.
Das Team, inkl. Chef, ist sehr nett und angenehm im Umgang. Es entsteht aber keine Ebene inspirierenden Austausches, wie das am Mittag der Fall war. Richtig tief ist das Wissen auch nicht und nachschenken muss ich meist selbst. Als ich um ein Wasser mit mehr Sprudel bitte, kommt das zwar, aber in einer Karaffe, so dass sich die Kohlensäure bald verflüchtigt und wir wieder da sind, wo wir davor waren. Die Weinkarte ist überschaubar; hierauf findet sich fast nur Luxemburg und Frankreich mit wenig Esprit; die Preise sind okay.
Trotz sympathischem Personal, einer Wohnzimmeratmosphäre mit einer den Herzschlag beruhigenden 1980er-Playlist und wirklich fairen Preisen (so kann man eigentlich keinen Gewinn machen, erst recht in Luxemburg) bin ich heute Abend eher enttäuscht vom vermeintlich besten Restaurant des Landes und verkürze mein Menü von 8 auf 6 Gänge. Dass das problemlos möglich ist, spricht indes einmal mehr für das Team.
Ambiente 8
Service 7,5
Getränke 7
Essen 7,2
Gesamteindruck 7,4
Mein kurzer Ausflug nach Luxemburg endet mit widersprüchlichen Gedanken. Trotz des vielen Geldes, das hier im Umlauf ist, kommt die Landes-Haute-Cuisine augenscheinlich nicht an die Nachbarn ran; dafür werden die Preise recht fair gehalten. Innovation und Motivation ist zu finden, siehe das Fani. Tradition ist augenscheinlich ein wichtiger Wert, der sich aber nicht durchgehend in Handlungen, Gesten und Gerichten spiegelt.
Wie wird es hier weitergehen? Ein paar junge Wilde (oder ältere Wilde wie Roberto Fani) täten dem Land und seinen Restaurants gut, was auch vom (lokalen) Publikum honoriert werden müsste. Mein - ganz subjektives - Gefühl ist aber eher, dass die luxemburgischen Fine Diner ihr Geld weiterhin über die Grenze und weiter nach Nennig, Dreis oder Metz transportieren werden.